Das scharfe Taschenmesser rettete unser Leben…

Ein Interview mit einem Neu-Isenburger Flüchtling…
Das Interview fand in arabischer Sprache statt.

SZ: Hallo, Herr El-Hamlaoui. Ich freue mich dieses Interview mit ihnen führen zu dürfen und dass sie sich dafür bereit erklärt haben!

A. E-M.: Ich freue mich, dir zu helfen

SZ: Lassen Sie uns doch direkt mal beginnen. Sie haben mir im Vorgespräch bereits erklärt, dass sie aus Syrien gekommen sind. Wahrscheinlich mussten Sie diese Frage auch schon oft genug beantworten, aber dennoch interessiert es auch mich: Was war der Grund Ihrer Flucht aus Ihrer Heimat?

…und deswegen ließ ich meine Familie zurück.

A. E-H.: Ja bei der Einreise war das mitunter die erste Frage die mir gestellt wurde, nachdem ich gesagt habe wer ich bin und woher ich komme. Optimalerweise habe ich einen Pass gehabt, viele mitreisende hatten dies nicht, da war es viel schwieriger für diese mit den Behörden zurechtzukommen. Doch das ist ein anderes Thema. Ich komme aus einer Stadt namens Qusayr, in der Nähe von Homs. Dort, ich weiß nicht wie informiert du darüber bist, ist momentan der islamische Staat an der Macht und es herrscht Bürgerkrieg. Da der IS in dieser Region so stark vertreten ist, musste ich den Großteil meiner Verwandtschaft zurücklassen. Mein Vater ist zu alt und krank um mitzukommen, meine Mutter ist mit meinen kleinen Geschwistern (12 und 15 Jahre) in den Libanon geflüchtet. Ich habe dafür gesorgt dass sie dort bei Freunden unterkommt. Ohne die Sicherheit und Gewissheit, dass es ihr gut geht, wäre ich niemals hergekommen. Meine restliche Verwandtschaft ist aber trotzdem zurückgeblieben, außer meine schwangere Frau und ich. Sie meinten, dass sie nicht mitkommen können, weil ihnen das Geld nicht ausreicht und es für sie eine größere Gefahr ist sich auf dem Weg zu machen, als dort zu bleiben. Das war für mich total schockierend, weil es sehr gefährlich ist und Nachbarn von dem IS entführt wurden. Sie sagten, dass wenn sie es nicht mehr aushalten, dass sie dann woanders hin flüchten wollen, aber nicht nach Europa. Für mich war die Lage nicht zu ertragen und meine Frau stand ständig unter Beobachtung der Islamisten. Das konnte ich mir nicht gefallen lassen, daher bin ich geflüchtet. Irgendwann hätten sie aus irgendwelchen Zweifel einen von uns beiden umgebracht oder entführt, um uns zu zwingen auch dem IS uns anzuschließen. Uns bliebt tatsächlich keine andere Wahl da eine Grundschule bombardiert wurde und Lehrerinnen entführt wurden.

SZ: Oh das klingt ziemlich dramatisch und erdrückend… Aber warum haben Sie sich entschlossen nach Europa zu fliehen und nicht mit ihrer Mutter und Ihren Geschwistern in den Libanon?

A. E.-H.: ich muss meine Familie unterstützen und soviel Geld sammeln, damit ich genug habe um auch Ihnen ein Ausweg zu ermöglichen. Der IS kontrolliert dort alles und jeden und wenn sie Geld brauchen, dann rauben sie die Menschen einfach aus. Damit haben sie kein Problem. Das war nur ein Beispiel von vielen. Europa bietet einfach mehr Perspektiven und Möglichkeiten, aber vorallem Sicherheit. Wäre ich in Libanon geflüchtet hätte ich nicht dafür sorgen können, dass ich dort mehr Geld verdienen kann für meine Familie, hier kann ich besser Geld schicken und ein besseres Leben meiner Frau und unserem Kind das auch bald kommt bieten. Warum ich nicht in der Türkei geblieben bin oder in den anderen Ländern, die ich überquert habe ist ganz einfach. Es war so überfüllt in den Aufenthaltsorten dort, dass wir direkt weggeschickt wurden oder von unseren Schleppern an andere Stellen gebracht wurden, wo wir immer wieder weitergeschickt wurden. Außerdem machten wir uns nicht auf diese Reise um uns in Türkei aufzuhalten. Wir wollen dass wir da hingehen wo nicht so viele sind und wo wir glauben dass wir viel sicherer sind und weiter entfernt sind vom IS, dorthin wo er am unwahrscheinlichsten kommen würde.

…und beinahe wären wir verhungert.

SZ: Ah, sehr interessant! Wie ist denn eigentlich ihre Flucht verlaufen und welche Länder haben Sie überquert? Gab es irgendwelche Komplikationen? Wie lief das ganze mit den Schleppern ab? Und wie kann ich mir einen Schlepper vorstellen?

A. E.-H.: Die Flucht hat sehr lange gedauert. ich glaube insgesamt waren wir neuneinhalb Tage unterwegs und es war sehr beschwerlich, teilweise kaum aushaltbar. Erst war geplant, dass wir nach Griechenland gebracht werden sollten. Doch aus irgendwelchen Gründen wurden wir einer anderen Gruppe Flüchtlingen angeschlossen. Wir waren circa 50 Leute, abhängig von einem Schlepper, der uns überall durchschleust und die Verantwortung über uns trägt. Ein Schlepper kannst du dir (auf gut Deutsch) so vorstellen, dass er dich nur abzockt, dein ganzes Geld kassiert, dich bis auf den letzten Cent melkt und sich aber null um dich kümmert. Viele Kinder der anderen Flüchtlinge sind erkrankt, doch das hat ihn kaum interessiert. Glücklicherweise haben diese Leute einen Arzt gefunden gehabt in Rumänien. Wir haben am Tag höchstens eine Portion Essen bekommen und viele hungerten die ganze Flucht lang. Rania, die erst im 2. Monat war zu dem Zeitpunkt (meine Frau) hat provisorisch zum Glück viel Essen mitgenommen. Es war wirklich sehr schlimm. Du musst dir vor Augen halten, dass das was wir gemacht haben illegal war und wir jedes Mal in Gefahr waren erwischt zu werden und dadurch vielleicht in die Heimat zurückgebracht zu werden oder erschossen zu werden. Allein der eigenständige Weg innerhalb Syriens, den wir aufgenommen haben, war extrem gefährlich. Wir mussten ja zur türkischen Grenze reisen und das sind ca. 300 Kilometer von unserer Stadt gewesen. Den Weg bestritten wir mit meinem alten Roller. Um nicht angehalten zu werden trug meine Frau eine Burka und ich klebte ein Abzeichen des IS an meine Jacke und an den Roller. Unser Essen, Geld und die Unterwäsche die wir mitnahmen verstauten wir alles unter den Rollersitz. Allah war wahrscheinlich mit uns, denn wir wurden nie aufgehalten und kamen nach 10 Stunden Fahrt oder so in Sanilurfa an. Dort hat sich schnell ein Schlepper gefunden und wir haben ihm 75.000 Lira bezahlt (ca. 24.000 Euro). Er garantierte uns eine sichere Reise im Bus. Doch dieser fuhr uns nur bis zur serbisch-ungarischen Grenze. Der Bus durfte nicht weiter fahren, da die Polizisten dort erkannt haben, dass wir kein gewöhnlicher Reisebus sind. Von da an begann eine Hetzjagd zwischen Polizisten, uns und dem Grenzzaun. Ursprünglich wurden wir zu einem Aufnahmelager geschickt, dass viel zu überfüllt war. Die Zustände dort trieben uns dazu abzuhauen und wegzulaufen. Außerdem hat sich in den 3 Tagen die wir dort waren nichts geändert und wir hatten zu große Angst zurück geschickt zu werden, sodass das investierte Geld umsonst gewesen wäre. Wir mussten mit ansehen wie Grenzzäune aufgestellt wurden und uns gleichzeitig noch versprochen wurde, dass wir bald durchgelassen werden. Das hat für uns keinen Sinn gemacht. Deswegen sind wir von diesem, ich weiß nicht wie ich es nennen soll… dieser Masse an Menschen, die an diesem Ort angesammelt wurde (ich glaube dort waren mehr als  650 Menschen), weggelaufen. Eines nachts, total unterernährt und hungrig sind wir sehr lange an dem Zaun entlang gelaufen, bis wir glaubten keine oder nur nicht aufmerksame/schlafende Wachleute zu finden und ich bin rüber geklettert. Meine Frau konnte nicht, weil sie keine Kräfte mehr hatte. Zum Glück hatte einer der Flüchtlinge die mit uns weggelaufen sind ein scharfes Taschenmesser dabei, sodass er den Draht nach einiger Zeit durchtrennen konnte. Wir rannten und rannten. Wir wussten nicht wohin und deswegen orientierten wir uns an die Gleise und hofften, dass ein Zug kommt. Irgendwann haben wir einen neuen Schlepper gefunden, der von anderen Flüchtlingen, die ihm das letzte Geld gaben, dass sie hatten, finanziert wurden. Er sagte uns „Nur noch 3 Stunden Fußweg“ und aus diesen 3 Stunden wurden drei Tage. Mit den letzten Kräften, ich weiß wirklich nicht mehr wie wir das geschafft haben, ich kann mir das auch nicht mehr vorstellen, ich weiß selbst nur noch wie unglaublich anstrengend es war, kamen wir an der Grenze an zu Österreich. Der Schlepper schleuste uns irgendwie durch und wir stiegen in einen Zug voller anderen Flüchtlingen ein in Richtung Deutschland, nach München.

SZ: Das klingt wirklich schrecklich und ergreifend. Umso mehr freut es mich jetzt, dass es Ihrer Frau und Ihnen nun besser geht. Was war es für ein Gefühl in diesen Zug nach Deutschland einzusteigen? Was machen sie hier momentan und wie geht es jetzt weiter?

A. E.-H.: Es war eines der besten und erleichterndsten Gefühle, die ich jemals gefühlt habe. Das war so eine starke Euphorie gemischt mit Freunde und Erleichterung, aber auch Zuversicht. Ich bin mir sehr sicher, dass andere Flüchtende es noch schwerer hatten, wobei ich mir das gar nicht vorstellen kann, weil ich das was ich erlebt und gesehen habe mir schon gereicht hat. Es war für mich wirklich eine der schlimmsten Erfahrungen und das wird auch erstmal einige Zeit dauern, bis meine Frau und ich alles verarbeiten können. Die Umstände dort sind echt unmenschlich und die Schlepper tragen dazu mitunter am meisten bei.

Ich bin dabei Deutsch zu lernen und ich kann auch schon einige Sätze sprechen. Ich will so schnell wie nur möglich die Sprache lernen um arbeiten zu gehen, damit meine Frau und ich genug Geld haben. Dann ist da noch mein Kind das irgendwann auch mal zur Welt kommt. Meine Frau ist jetzt schon im fünften Monat. Ehrlichgesagt möchte ich kein Geld vom Staat bekommen, weil ich meine Familie selbst versorgen möchte. Ich würde mich schämen.

Wenn alles klappt, darf ich hier 3 Jahre bleiben, Geld verdienen und meinen Verwandten dieses Geld zu schicken. Ich hoffe, dass sich bis dahin die Lage in meinem Heimatland verbessert hat. Erstmal hoffe ich aber, dass ich nicht abgeschoben werde, viele haben hier auch keine Asylgenehmigung erhalten.

SZ: Dann wünsche ich Ihnen dabei viel Glück und Ihnen und Ihrer Frau eine schöne Zukunft mit Ihrem Kind! Und damit bedanke ich mich für dieses Interview.

A. E.-H.: Das habe ich gerne gemacht.

Omar Bouguerra, November 2015